Vom Flüchtling zur Medaille: Harutyunyan als neue Hoffnung
Rio – Für die Rolle als neuer Vorzeige-Boxer ist Artem Harutyunyan prädestiniert. Nach zwölf Jahren beendet der Hamburger Halbweltergewichtler die quälende Zeit der deutschen Faustkämpfer ohne Olympia-Medaille – und erhält schon in Rio de Janeiro aufgrund seiner Vita das Prädikat «Vorbild».
«Das ist für ihn persönlich absoluter Lohn für all die Mühen, die er und sein Bruder für die Familie auf sich genommen haben», schwärmt sein Trainer Michael Timm im Riocentro 6 nach dem Halbfinaleinzug des 26-Jährigen. «Man braucht ja Vorbilder in großen Boxställen. Und Artem ist ein ganz, ganz großes Vorbild. Es gibt viele große Talente, die sich an seinem Ehrgeiz hoffentlich ein Beispiel nehmen.»
Harutyunyan steht beispielhaft für das klassische Märchen eines Box-Aufsteigers. Seine Familie flieht mit ihm 1991 aus Armenien, kommt im Asylheim unter. Bis 2010 habe er von Hartz IV gelebt, erzählte er vor Olympia der «Bild». Sein Bruder Robert und er werden zunächst vom Vater in Taekwondo trainiert.
Als Boxer wird Harutyunyan EM-Dritter 2013, danach APB-Weltmeister – und will jetzt den größten Erfolg seiner Karriere. «Jede Nacht träume ich von Gold», sagt er in Rio glücklich mit einer kleinen Schwellung unter dem Auge. «Aber Gold ist nicht alles, am Ende zählt nur, dass man glücklich ist mit sich.»
Um dieses Gefühl weiterzugeben, engagiert sich Harutyunyan für Flüchtlinge, bringt jungen Syrern das Boxen bei. «Ich weiß, wie das Leben für die Flüchtlinge ist und was sie durchmachen», sagt der 64-Kilo-Mann, während ihm Trainer Timm ein Handtuch gegen die kalte Klimaanlagen-Luft in der Box-Arena von Rio um die Schultern legt. «Ich möchte ihnen den Boxsport nahebringen und zeigen, dass der Boxsport einem daraus helfen kann und man so selbstständig werden kann und sogar für sein Land eine Medaille holen kann.»
Mit einem 3:0-Punktsieg über Batuhan Gözgec sichert er bereits vorzeitig das erste Olympia-Edelmetall für den Deutschen Boxsport-Verband seit 2004. Die mögliche politische Brisanz des Kampfes zwischen einem gebürtigen Armenier und einem Türken lässt Harutyunyan dabei äußerlich kalt. «Sicher gibt es politische Auseinandersetzungen zwischen Armenien und der Türkei, aber das haben Politiker zu entscheiden», sagt er. «Ich bin für den Frieden.»
Am Freitag (19.45 Uhr MESZ) geht es gegen den 13 Zentimeter größeren gebürtigen Kubaner Lorenzo Sotomayor Collazo, der für Aserbaidschan startet, um den Finaleinzug. «Es wird eine schwierige Aufgabe, wir müssen uns was einfallen lassen», sagt Coach Timm – erinnert sich aber an einen taktischen Kniff seiner Karriere. «Als ich Chagaev gegen Walujew hatte, haben alle gesagt: Was soll der kleine Zwerg gegen den Großen ausrichten.» Doch Ruslan Chagaev holte sich gegen den russischen Riesen den Schwergewichtsgürtel. Ein neues Kapitel in Harutyunyans Märchen ist auch am Freitag also nicht ausgeschlossen.
Fotocredits: Valdrin Xhemaj
(dpa)