Medellíns Metamorphose: Raus aus Escobars Schatten
Medellín – Es ist unvermeidlich, diese Geschichte muss beim alten Medellín beginnen. Federico Arrollave fegt das schwarz-weiße Steinmosaik, das das Grab von Pablo Escobar umrandet.
Seit der Tötung des mächtigsten Kokainbarons der Welt, im Dezember 1993, pflegt der 68-Jährige das Grab. Die Pflege wird heute bezahlt von «Popeye», der für Escobar mindestens 250 Menschen persönlich tötete, nach 23 Jahren Gefängnis wieder frei ist – und im nächsten Jahr Senator werden will.
«Er hat Häuser gebaut, jede Woche Milchlieferungen in die armen Barrios geschickt, es gibt viele, die ihm nachtrauern», sagt Arrollave. Auch bei ihm ist gewisse Bewunderung zu spüren für den «Patrón», der es mit rund 2000 Leuten damals schaffte, einen ganzen Staat zur Beute zu machen, Zehntausende starben im Drogenkrieg.
Touristen aus dem Ausland machen Fotos, es ist eine der Attraktionen in Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens im Nord-Westen des Landes. Und das nicht erst seit der Netflix-Serie «Narcos» über Escobars schillerndes Leben. Im von Escobar finanzierten Armenviertel, das bis heute seinen Namen trägt, werden Kaffeetassen mit einem Bild seiner Hochzeit verkauft. Jüngst kiffte hier am Grab der US-Gangsterrapper Wiz Khalifa – und postete die Bilder, eine Hommage an Escobar.
Das wiederum brachte den Vertreter des anderen, des neuen Medellín wahnsinnig auf die Palme, Bürgermeister Federico Gutiérrez. «Dieser Typ hat nicht die Gewalt der Drogenhändler erleiden müssen.» Das sei eine Schande, er solle lieber den Opfern Blumen bringen, wetterte er. Ein paar Tage später verkündete Gutiérrez etwas, das aus seiner Sicht das neue Medellín ist: «Der März war der Monat mit den wenigsten Morden in 38 Jahren. Die Aufgabe geht weiter, es fehlt noch viel».
Ein Slogan der Millionenstadt lautet «Medellín es un Orgullo para el Mundo». «Medellín ist ein Stolz für die Welt». In der Vitrine im Rathaus steht der Preis für die Stadt des Jahres 2013. Seilbahnen und Rolltreppen wurden gebaut, um die Armenviertel besser an den Verkehr anzuschließen, im Gegensatz zur Hauptstadt Bogotá gibt es eine Metro.
Es wurde massiv in Bibliotheken und öffentliche Plätze investiert – wo früher geschossen wurde, schauen sich die Bürger an der frischen Luft Fotoausstellungen an. Oder sie genießen die durch überproportionale Proportionen glänzenden Skulpturen des Bildhauers Fernando Botero. Es geht um Gemeinsinn, Teilhabe der Armen, um Fußballplätze, Stipendien.
Fast überall lockt kostenloses Internet, ebenso ein Radleihsystem. Es geht um einen Brückenschlag zu den lange Vernachlässigten, statt wie in anderen Städten Lateinamerikas die Favelas und Villas als Hort der Gewalt und des Drogenhandels sich selbst zu überlassen. Ein Fordern und Fördern – und die Stadt exportiert das Modell, um Geld damit zu verdienen. Für 400 000 Dollar hilft die städtische Firma für urbane Entwicklung (EDU) nun Paraguay bei der Integration von Armenvierteln.
Auch wenn längst nicht alles gut ist, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, insgesamt liegt die Arbeitslosenquote noch bei über zehn Prozent. Aber die einstige «Mordhauptstadt» zählt «nur noch» rund 350 Morde im Jahr, was 20 Morden je 100 000 Einwohner entspricht, 1991 waren es 7273 Morde, was 266 Morden je 100 000 Einwohnern entsprach. Es gibt Porsche-Läden, eine quicklebendige Radszene, Galerien, schicke Bars, viel Dynamik. Ein Spiegelbild des Kolumbien, das den Krieg hinter sich lässt, die Zahl der Touristen im Land kletterte 2016 rasant auf rund fünf Millionen.
Gutièrrez setzt auf das Motto «Cuenta con vos», «Man zählt auf Dich». Besonders gefördert werden Menschen mit Behinderung, Frauen, die Opfer von Prostitution waren, frühere Straßenkinder und Opfer des Konflikts. Was diese «Inclusión Social» heißt, erfährt man zum Beispiel, wenn man mit Marisol Martinez spricht. Sie kommt aus dem einst täglich von Morden erschütterten Armenviertel Comuna 13.
Nun steht sie an einem Stand im Rathaus von Medellín und verkauft köstliche Fruchtsäfte, sie hat sich mit acht Mitarbeitern auf die Herstellung von Fruchtkonzentrat aus Mangos, Ananas, Trauben und Guanabánas spezialisiert. Die Stadt finanziert für solche Projekte Kurse zur Rechnungsführung und zur Verwaltung der Mini-Unternehmen.
«Hier können wir für unsere Produkte werben und verkaufen ganz gut», erzählt Martinez (43). Die große Eingangshalle ist ein einziger Markt der Möglichkeiten. «Es wird Stück für Stück besser.» Ihr gefällt das Kreative, die Kultur, die junge vor Elan sprühende Literaturszene.
Über die Escobar-Zeiten will sie nicht mehr reden. In ihrer Stimme schwingt so etwas wie Stolz mit. Stolz auf das Laboratorium Medellín, das so langsam seinen berühmtesten Toten endgültig vergessen will.
Fotocredits: Georg Ismar,Georg Ismar,Georg Ismar,Georg Ismar,Georg Ismar
(dpa)