Ganz nah, aber weit weg: Olympia-Eröffnung aus einer Favela
Rio de Janeiro – Ohne Thiago könnte es gefährlich werden. Thiago ist ziemlich groß, ganz schön kräftig und trägt ärmellos. Thiago wartet an der Metro-Station neben dem legendären Maracanã-
Stadion von Rio de Janeiro.
Der 26-Jährige besorgt auch die Mototaxis, Taxis auf zwei Rädern. Auf dem Rücksitz irgendeines Fahrers geht es den Berg hoch in Richtung einer Favela namens Mangueira. Thiago ist immer in der Nähe.
Wer sich als Gringo, als weißer Ausländer, alleine in eine brasilianische Favela wagt, erhöht seine Chancen, ausgeraubt zu werden. Leute wie Thiago sorgen dafür, dass der Gringo nicht vom Weg abkommt und Einblicke in eine Welt bekommt, die er sonst vielleicht mit leeren Taschen verlassen würde. Mehr als 70 000 Zuschauer sind im selben Moment bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele im Maracanã, Millionen Menschen hocken weltweit vor ihren Fernsehern.
Thiago, seine Freundin Jaqueline und ein paar Freunde sind nur knapp zwei Kilometer Luftlinie vom Stadion entfernt. Sie stehen auf dem Dach eines kleinen Hauses in der Favela und ihr Ausblick auf das Maracanã ist: atemberaubend. Zwischen Mangueira auf der einen und der Christus-Statue auf der anderen Seite liegt das legendäre Stadion im Erdgeschoss der brasilianischen Metropole.
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist hier vor zwei Jahren Weltmeister geworden. Jetzt hält Brasiliens schwer umstrittener Interimspräsident Michel Temer gerade die Olympia-Eröffnungsrede und wird bitterlich ausgepfiffen. Thiago, Jaqueline und die anderen bekommen das hier oben in Mangueira nicht mit.
Die räumliche Distanz ist so gering, aber die finanzielle hätten sie niemals überwinden können. Wer hier in der Favela wohnt, kann sich kein Ticket für die Eröffnung des mehr als 10,5 Milliarden Euro teuren Olympia-Zirkus leisten. Außer, er hat vorher einen einsamen Gringo in der Nachbarschaft ausgeraubt.
Jaqueline grinst, als sie nach den Gefahren in Mangueira gefragt wird. «Hier ist es für Fremde nicht gefährlich, Mangueira ist sehr ruhig und bekannt für seine Offenheit», sagt sie. Man müsse also keine Angst haben. Aber: «Alleine sollte ein Gringo hier nicht rein gehen.» Dann könnte es nämlich doch «perigoso», gefährlich, werden.
Wer sich in der Gemeinschaft von Jaqueline, Thiago und ihren Freunden auf dem Dach eines kleinen Hauses einer Favela befindet, denkt an vieles, aber nicht an Angst. Es wird gelacht, Bier getrunken, manchmal gesungen und ab und zu gestaunt, wenn aus dem Dach des Maracanã gerade mal wieder ein paar Feuerwerkskörper in die Luft gejagt werden.
«Ist das dein Ernst?!», schreit Jaqueline vor Begeisterung bei einem besonders schönen Feuerwerk. «Wow, verdammt, unfassbar». Jaqueline hat schwarze Dreadlocks, dunkle Haut, ist ziemlich laut und ganz schön rund. Sollte tatsächlich noch mal ein vierter Teil von Big Mama’s Haus gedreht werden, wäre Jaqueline die ideale Big Mama. Sie hört nur auf zu reden, wenn sie Bier trinkt.
Als nebenan im Maracanã das olympische Feuer lodert und das letzte Feuerwerk gezündet wird, versammelt sich die Gruppe noch mal am Rand des Daches. Der Himmel über Mangueira leuchtet für kurze Zeit rot, blau und grün – dann löst sich alles in grauen Rauch auf.
Auf dem Rückweg zur Metro scheint es zunächst etwas brenzlig zu werden, weil Thiago keine Mototaxis mehr bekommt. Der Abstieg in Richtung Maracanã muss darum zu Fuß bewältigt werden, durch die engen Gassen einer brasilianischen Favela. Aber Thiago ist ja dabei. «Tudo bem», sagt er. Alles gut.
Fotocredits: Diego Azubel
(dpa)