Freie Singgruppen werden beliebter
Gera – Ein glockenhelles Keyboard, Synthie-Streicher und gehauchte Liebesschwüre: «Reality», der Hit aus dem 80er-Jahre-Film «La Boum – Die Fete», ist ein Paradebeispiel für schönen Kitsch.
Es ist eines der Lieder, das beim
«Rudelsingen» gerade besonders beliebt ist – einer Veranstaltungsreihe, bei der sich regelmäßig Hunderte Menschen an vielen Orten Deutschlands zum gemeinsamen Singen treffen.
Während manchen klassischen Chören im ländlichen Raum die Mitglieder ausgehen, haben freie Singgruppen Zulauf. Dort gibt es meist kein klassisches Chor-Material, sondern alte Hits, die man sonst vielleicht allein unter der Dusche singt. «Dreams are my reality, a different kind of reeeaaality», schallt es dann durch Veranstaltungshallen. Wenn man zum Rudelsingen geht, ist Mitsingen Pflicht. Die Texte werden auf eine Leinwand projiziert, gesungen wird im Stehen, angeleitet von einem Gruppenleiter und einem Begleitmusiker.
Zu den Rudelsingen-Veranstaltungen kommen pro Monat verteilt über Deutschland etwa 10.000 Menschen, wie der Gründer David Rauterberg erzählt. Die Besucher seien im Schnitt zwischen 30 und 70 Jahre alt. Es ist nicht das einzige freie Singformat, das in den vergangenen Jahren aufgekommen ist. Kneipenchöre,
«Sing Dela Sing» oder der «Ich-kann-nicht-singen-Chor» sind weitere Beispiele. Zum Vergleich: 56.000 Chöre gab es nach Angaben des Deutschen Musikrats 2018 in Deutschland, rund sechs Prozent weniger als noch 2015.
Seit etwa zehn Jahren kommen immer mehr offene und spontane Sängerformationen dazu, sagt Moritz Puschke, der künstlerische Leiter des Deutschen Chorverbands. Seine Einschätzung: «Das wird noch mehr Konjunktur bekommen.» Puschke hat in Berlin den «Ich-kann-nicht-singen-Chor» ins Leben gerufen.
Im Prinzip könne jeder singen, meint er. Das Problem seien nicht schiefe Töne, sondern, dass viele Menschen negative Erinnerungen ans Singen haben. Der Klassiker: Vorsingen vor der gesamten Schulklasse im Musikunterricht.
Beim Rudelsingen kann man solche Traumata überwinden. «Je mehr Leute es sind, desto weniger fallen falsche Töne auf», sagt Rauterberg. Und es kommen viele – zur letzten Veranstaltung in Bielefeld etwa 1000 Menschen. Normalerweise sind es zwar weniger, doch in vielen Städten sind die Veranstaltungen regelmäßig ausverkauft.
In den Städten im Osten ist die Musikauswahl traditionell etwas anders, sagt Rauterberg. Puhdys, Karat, City gingen dort besser, weil sie im Westen kaum einer kenne. Anders herum gelte dasselbe für manche «Wessi-Rockbands». Ansonsten ist das Musikmaterial gemischt und wechselt häufig, viele Evergreens sind dabei: «Er gehört zu mir», «Die Gedanken sind frei». Oder eben Musik aus «La Boum». Wer den speziellen Sound von «Reality» hört, sei sofort in einer bestimmten Stimmung, sagt Rauterberg. «Dann sehe ich reihenweise Paare im Raum, die sich aneinander kuscheln, das ist total verrückt.»
«Der Mensch sucht nach Gemeinschaft», erklärt Puschke die Beliebtheit des gemeinsamen Singens. «Wir erleben in unserer Gesellschaft einen Trend zur Vereinsamung und Vereinzelung. Da bekommt das gemeinschaftliche Singen eine große bindende Funktion.» In digitalisierten Zeiten befriedige das kollektive Singen außerdem unser Bedürfnis nach etwas Analogem, Echtem.
Die Liebe zum Gesang erklärt sich aber nicht nur durch äußere Umstände, sondern schlummert auch in uns drin. Forscher haben herausgefunden, dass beim Singen im Chor Oxytocin, das sogenannte Kuschelhormon, sowie die klassischen Glückshormone, Endorphine, ausgeschüttet werden.
Formate wie das Rudelsingen passen außerdem zu einer flexiblen Arbeitswelt, in der nicht alle Menschen zur gleichen Zeit frei haben. Vielleicht ist das ein Grund, warum in vielen ländlichen Gebieten die Chöre aussterben. Puschke erklärt den Chorschwund im ländlichen Raum allerdings durch den demografischen Wandel. Denn in den großen Städten sehe es anders aus. «Da gibt es sogar einen gegenläufigen Trend. Wo in den Städten gute Chorleiter sind, gibt es Zulauf.»
Der Berliner
«Ich-kann-nicht-singen-Chor» wird von Michael Betzner-Brandt geleitet. Erst einmal stehen die Leute auf, atmen bewusst ein und aus, beschreibt Puschke den Ablauf. Danach gibt es kleine Improvisationen über Laute, «Aaaahs» und «Oooohs». «Dann kommt ein Rhythmus dazu, kleine Melodien. Nach etwa einer Stunde kommt ein Song um die Ecke.» Und wie klingt so ein Ensemble am Ende? «Voller Freude, voller Inbrunst, warm und homogen.»
Fotocredits: Joachim Pantel
(dpa)