Chinas Olympia-Erwartungen: Gold ist nicht mehr alles
Peking – Chinas Staatsplan wird bei den Olympischen Spielen nicht erfüllt. Das Nationale Sportbüro hatte für die Wettbewerbe in Rio de Janeiro so viele Goldmedaillen wie bei den vergangenen Spielen in London angekündigt. 38. Doch damit wird es nichts.
Vor dem viertletzten Wettkampftag hat China 19 Mal Gold geholt. Experten sehen noch Chancen auf sechs weitere erste Plätze. Doch viele Chinesen schämen sich im Gegensatz zum Staat nicht dafür. Sie sind begeistert von ihren individuellen Sportlern.
«Das muss doch ein Scherz sein, oder?», kommentierte zwar die staatliche Zeitung «China Daily» auf ihrem Twitter-Account, als sich vergangene Woche Großbritannien im Medaillenspiegel auf den zweiten Platz vor China setzte.
An die Leistungen von den Spielen in Peking 2008 traute sich schon vor der Eröffnungsfeier niemand mehr zu denken. Damals stellte Team China mit 51 Spitzenplätzen einen Olympia-Rekord auf und ließ durch die Goldflut sogar die USA hinter sich.
Wegen der aktuellen Ausbeute sah sich der stellvertretende Leiter des Sportbüros bereits zu einer Entschuldigung genötigt: «Es stimmt, dass wir auf unerwartete Probleme und Herausforderungen gestoßen sind», sagte Gao Zhidan. Die Sportler würden dennoch bis zum «letzten Moment» kämpfen. Nur der erste Platz sei es, der in Wettkämpfen zähle, sagte Gao Zhidan in einem Interview der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua.
Doch viele seiner Landsleute sehen das ganz anders. Für mehr Aufregung und Begeisterung als die Gold-Frage sorgt zumindest in Chinas sozialen Netzwerken, wie erfrischend sympathisch und individuell sich einige der chinesischen Athleten in Rio präsentieren. Nicht der kollektive Kampf um Gold steht plötzlich im Mittelpunkt, sondern das – manchmal auch verletzliche – Ich.
Neuer Liebling der Chinesen ist Schwimmerin Fu Yuanhui. Ganz offen erklärte die sichtlich erschöpfte Sportlerin in Rio nach einem Staffelrennen, warum es für mehr als eine Bronzemedaille nicht gereicht hatte: «Ich habe gestern meine Periode bekommen und fühlte mich sehr müde.» Die Internet-Gemeinschaft reagierte entzückt auf diese Ehrlichkeit: «Wir alle können stolz auf sie sein, dass sie so ein Tabu anspricht», schrieb ein Nutzer.
Fu Yuanhui hatte bereits zuvor Millionen Chinesen begeistert, als sie nach einem Einzelrennen schusselig davon sprach, den vierten Platz belegt zu haben. Erst ein TV-Reporter wies sie darauf hin, dass sie eine Bronzemedaille gewonnen hatte.
Ebenfalls für einen Sturm der Begeisterung sorgte Wasserspringer Qin Kai, der seiner Freundin He Zi am Sonntag vor laufenden Kameras einen Heiratsantrag machte, nachdem sie kurz zuvor im Kunstspringen Silber gewonnen hatte. «Gold am Finger ist doch noch besser als um den Hals», kommentierte ein Internetnutzer.
Chinas kontrollierte Medien ändern seit Beginn der Spiele ihre Linie: Sie zeigen sich zum Teil weniger streng mit den Athleten. «Wir haben die Olympischen Spiele lange als eine Art Sportkrieg betrachtet», kommentierte etwa die «Beijing Times». Die Zeiten, in denen westliche Athleten als «Feinde» betrachtet wurden und nur Gold zählte, seien vorbei.
Die Spiele in Rio würden den «großen olympischen Geist» der Chinesen offenbaren, hieß es. Änhlich urteilte die Zeitung «China Youth»: «Für China finden die Spiele in Rio nicht in den Wettkampfstätten statt, sondern außerhalb davon.»
Eine eigenwillige Erklärung, warum Medaillen für China plötzlich nicht mehr wichtig sind, liefert das Blatt gleich mit: Die Nation strotze vor Kraft. Sie brauche heute keine Goldmedaillen im Sport mehr, um der Welt ihre «herausragende Rolle» und «Stärke» zu demonstrieren.
Fotocredits: Lukas Coch
(dpa)