Ach, Rio – «Olympia zum falschen Zeitpunkt»?

Rio de Janeiro (dpa) – Rio ist gerade der Prügelknabe, vom Pech verfolgt. Der eingestürzte Radweg, fast pleite. Es ist eine wunderbare, verrückte Stadt, mit lebensfrohen Menschen. Das kann eine Chance für schöne Spiele sein.

Es waren andere Zeiten. Am 2. Oktober 2009 um 18.50 Uhr holte der damalige IOC-Präsident Jacques Rogge im fernen Kopenhagen einen Zettel mit «Rio de Janeiro» aus dem Umschlag. An der Copacabana bejubelten vor riesigen Leinwänden über 100 000 Menschen den «Olympiasieg» im fünften Anlauf. US-Präsident Barack Obama war frustriert, er hatte vor Ort eindringlich für sein Chicago geworben.

«Es ist Zeit, das Ungleichgewicht zu beenden. Die Spiele gehören allen Kontinenten», betonte Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva. Er gewann das Duell gegen Obama, der Lula als beliebtesten Politiker der Welt pries. Die Galionsfigur der Linken, aufgestiegen vom Schuhputzer zum Präsidenten, der Brasilien zum Boomland machte. Und fast 40 Millionen Menschen mit Sozialprogrammen aus der Armut holte. Vom erwachenden grünen Riesen war die Rede. Man war stolz.

Jetzt ist es so weit, die Spiele sind da. Aber an der Copacabana jubelt keiner mehr. Und gegen Lula wird wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt. Seine Nachfolgerin Dilma Rousseff wurde suspendiert, die Arbeiterpartei aus der Regierung verdrängt. Nun regiert seit Mai eine Mitte-rechts-Regierung, die auch schon drei Minister unter anderem wegen Korruptionsaffären verloren hat. Nach Olympia soll Rousseff endgültig abgesetzt werden. Absturz, ein weinender Cristo – die Beschreibungen gleichen einem depressiven Patienten auf der Couch.

Es ist ein wenig so, als wären alle Plagen gleichzeitig über Land und Stadt gekommen. Die Wirtschaft um 3,8 Prozent eingebrochen. Eine dramatische Diskreditierung der politischen Klasse – gegen rund 60 Prozent der Mitglieder von Abgeordnetenhaus und Senat gibt es Anklagen oder laufen Ermittlungen, bis hin zum Mord. Und bis zu 1,5 Millionen Menschen wurden mit dem mysteriösen Zika-Virus infiziert.

Und dann Rio und Olympia: Ein erst vor drei Monaten eröffneter, spektakulärer Olympia-Radweg über die Felsküste wird von einer Welle weggerissen. Zwei Menschen sterben. Just als Bürgermeister Eduardo Paes zur Entzündung des Feuers im griechischen Olympia weilt. Am Rande des Fackellaufs muss im Amazonasgebiet der wildgewordene Jaguar «Juma» erschossen werden, den man als «Maskottchen» dazu geholt hatte. Im Olympischen Dorf lecken Wasserleitungen, Toiletten sind verstopft, 630 Arbeiter müssen in einem Noteinsatz ran, eine Blamage.

Aber, es ist alles fertig geworden – unter schwierigsten Bedingungen. Es ist nicht alles perfekt, doch Rio eine wunderbare Stadt – und vielleicht wird es ja ähnlich wie bei der Fußball-WM: Wenn es losgeht, ist die Stimmung da. Das große Pfund der Stadt sind die herzlichen Menschen, immer den Daumen hoch, «tudo bem», ein Küsschen, ein Tanz.

Gerade übrigens in den Favelas. Hier ist das raue, kreative Rio zu Hause. A Cidade maravilhosa, die wunderschöne Stadt. Jeder Morgen in Copacabana mit der geschwungenen Hügelkette ist anders, magisch eine Ausfahrt mit den Fischern zum Sonnenaufgang. Der Autor Dawid Bartelt hat Copacabana in der «Biografie eines Sehnsuchtsortes» treffend beschrieben: Der Inbegriff brasilianischer Lebensart, der Strand als demokratischer Ort, wo die Favelaschönheit neben dem Millionär liegt.

«Rio ist ein Ort des Feierns und des Sports», sagt Brasiliens erste Olympiasiegerin (Atlanta 1996), Jackie Silva. Sie spielt am Strand immer noch jeden Morgen Beachvolleyball. In Rio lebt man, in Sao Paulo arbeitet man, heißt es. Wer den vollen Strand selbst werktags sieht, versteht, was damit gemeint ist.

Und dann diese leichte Verrücktheit. Hunde, bei 19 Grad winterfest gemacht, mit Strümpfen und Mützen. Der Sambawirt Alfredo vom traditionsreichen Bip Bip: Er sitzt jeden Abend auf seinem Plastikstuhl und wartet auf Musiker, die feinsten Samba spielen. Beifall darf aber – wegen der Nachbarn – nur geschnipst werden. Olympia wird vielerorts eher unter dem Feieraspekt gesehen. «Karneval im Winter», meint ein Balljongleur in Copacabana.

Aber, egal wie es wird: Die verdreckte Guanabarabucht wird nicht sauber. Und die Polizei versucht mit Gewalt Favelas «aufzuräumen». Nach Olympia, wenn wegen der Kosten drastisch gespart werden muss, könnten die Drogenbanden ein Gewinner der Spiele sein. Und Überfälle Rio wieder unsicherer machen. Jetzt ist so viel Polizei und Militär in der Stadt, dass Olympiabesucher recht gut geschützt sein sollten.

Der hemdsärmelige Bürgermeister Eduardo Paes war zuletzt genervt vom Schlechtreden seiner Stadt. Er setzt auf einen Tourismusboom durch begeisternde Spiele, die all die Schönheiten dieser Stadt in die Wohnzimmer der Welt tragen. Dem «Guardian» sagte er aber auch, Olympia sei eine vertane Chance. «Mit der ganzen ökonomischen und politischen Krise, mit all diesen Skandalen, ist es nicht der beste Moment, um im Fokus der Welt zu stehen.» Denn statt zu glänzen, werden wie unter einem Brennglas die Probleme sichtbar – auch strukturelle wie Korruption, Baupfusch und fehlende Solidität.

Der Boom der Lula-Jahre war zu stark auf das Erdölgeschäft gebaut. Jetzt, wo die Preise gefallen sind, ist das davon zu stark abhängige Rio fast pleite. Nur mit Notkrediten der Regierung konnten die Last-Minute-Arbeiten geschafft werden. Die Hoffnung: Rio überrascht alle positiv. Olympiasiegerin Silva meint die ganzen Chancen, etwa die Verbesserung der Infrastruktur, der Ausbau des Leistungssports dank Olympia, würden kaum gesehen. Und will man nicht weg von den pompösen Spielen? Aber sie konstatiert auch, Brasilien 2016 sei halt nicht mehr Brasilien 2009. «Olympia kommt zum falschen Zeitpunkt.» 

Fotocredits: Dean Lewins

(dpa)
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